Schon eine ganze Weile hörte ich nun meinem Klienten zu, der seine aktuelle Situation zusammenfasste. Es war spürbar anders als an den meisten Coachingtagen. Sein Tonfall war abgehackt, er sprach schnell, eine gewisse Aggressivität lag immer wieder in seiner Stimme. Er schimpfte phasenweise regelrecht und machte dabei so eine Art „Rundumschlag“:
„Meine Mitarbeitenden…, die Kunden…, meine Frau…, meine Tochter und ja auch über mich selbst habe ich mich geärgert.“ So ging das minutenlang und ich ließ ihn reden.
„So, das war jetzt mal abladen“, sagte er schließlich und holte tief Luft. Wahrscheinlich hatte er einen ernsten Gesichtsausdruck bei mir erwartet, als er offenbar bemerkte, dass ich lächelte. Ich glaube, er ahnte zumindest unbewusst schon, was gleich kommen würde.
„Abladen beim Coach ist vollkommen ok, dafür bin ich da.“, entgegnete ich. „Ich hoffe, es geht Dir jetzt besser und habe zwei Fragen an Dich: „Womit möchtest Du anfangen und wie viele Coachingsitzungen hast Du Dir vorgestellt, um all die Themen aufzuarbeiten, die Du in den letzten 15 Minuten aufgerufen hast?“
Er lachte kurz, denn es war klar, dass meine Fragen so nicht ernst gemeint waren. Wenn – wie an diesem Tage bei meinem Klienten – alle und alles ein Problem und nur nervig zu sein scheinen, dann ist das in den allermeisten Fällen ein deutliches Signal für eine andere Problemlage. Ich war mir mit meiner Arbeitshypothese ziemlich sicher. Es war offenbar gerade alles zu viel, zu viele Baustellen, zu viel Stress, zu viele Themen und zu viele Energieräuber und der „Akku“ war leer. Die ein oder andere Geschichte, die mein Klient gerade erzählt hatte, war eindeutig eine Lappalie, die ihn im kraftvollen Arbeitsmodus nicht tangiert hätte. Ich kannte ihn schon länger und war mir ziemlich sicher, dass er in den letzten Wochen mal wieder viel zu viel gearbeitet hatte, auf alle Hobbies und alles, was ihm sonst noch guttat und die Akkus auffüllte, verzichtet hatte.
Ich bat ihm zum Fenster und wir lehnten uns entspannt dagegen. „Charly!“, sprach ich in an. „Du bist ja mein erfahrener Beraterfreund, Du bist schon weit über 80 Jahre alt, Du hast alles gesehen, Du bist klug und weise und Du hast mir und meinen Kunden schon so oft weitergeholfen. Schön, dass Du heute mal wieder da bist und zugehört hast. Darf ich Dich um Deine höchst professionelle und kompetente Meinung bitten. Was ist denn das bei Heiner (so hieß mein Klient) los?“
Ich schaute Heiner an und er lächelte zurück. Er kannte diese Intervention mit dem „Berater Charly“ bereits aus unserer früheren Zusammenarbeit und der Status mit etwas mehr Distanz zum Geschehen, bei dem er gleichzeitig klug und sogar weise war, tat ihm immer gut.
„Ich würde sagen, da hats mal wieder einer gründlich übertrieben, zu viel gearbeitet, auf alles schöne zu lange verzichtet und ist in allerersten Linie jetzt mal wieder genervt von sich selbst. Alle anderen scheinen mir eher so zu sein, wie sie immer sind.“
Ach, danke Charly – so einfach ist manchmal die Welt.
Und so war es denn an diesem Tage auch, mein Klient, den ich schnell wieder bat als Heiner auf seinem Stuhl Platz zu nehmen, hatte es selbst ausgesprochen. Er selbst war sein Problem und das beinhaltete natürlich auch die großartige Erkenntnis, dass er selbst auch der Schlüssel zur Lösung war. Die Aufarbeitung ging denn auch gut von der Hand.
Einen solchen Zustand erlebe ich bei meinen Klienten immer wieder. In sogenannten „Stressphasen“ vernachlässigen sie sich selbst und das obwohl in meinem ganzheitlichen Coachingansatz auch immer die Bearbeitung des „Ich-Feldes“ ein wesentlicher Aspekt ist. Was tue ich nur für mich? Was ist meine Berufung, wofür bin ich da? Was macht mich glücklich, was schenkt mir Kraft? Wissen tun meine Klienten das zumindest nach der Arbeit mit mir eigentlich immer – sie vergessen es sozusagen. Dann wird der Akku nicht mehr aufgeladen, ist irgendwann leer und die große allgemeine Unzufriedenheit setzt ein.
Heiner brauchte ich an diesem Abend gar nicht weiter zu fragen, er sprudelte los.
„Ja Mario, Du hast ja Recht: Ich war seit Wochen nicht mehr bei meiner Skatrunde. Laufen geht bei dem Wetter auch gerade nicht, ja sag nichts, ich weiss, ist eine Ausrede. Und meine guten Freunde habe ich auch schon lange nicht mehr getroffen.“
„Dein „Ich Feld“ ist also…“, begann ich den Satz. „Leer!“, kam es von Heiner, wie aus der Pistole geschossen.
Also schrieb er auf, was er in den nächsten Wochen konkret tun wollte, um seinen Akku aufzuladen. Ein Versprechen an sich selbst.
Wir sprachen noch kurz über die vielen Themen, die aus ihm herausgesprudelt waren und filterten die heraus, über die wir wirklich im Coaching reden mussten. Es waren nur zwei.
Mit Heiner war es an diesem Tag für mich nicht schwer, ihn wieder auf den „rechten Weg“ zu bringen. Manchmal aber erlebe ich auch Menschen, die die Frage „Was tut Dir gut?“ gar nicht beantworten können. Das „Ich-Feld“ war so lange leer, dass ihnen nicht klar ist, was sie tun müssen, um ihren Akku wieder aufzuladen. Deshalb ist das in meiner Arbeit fast immer ein ganz wesentlicher Bestandteil: finde Deine Kraftquellen, suche die Möglichkeiten, sie zu pflegen und lade den Akku regelmäßig auf. Über sich selbst kann man bekanntlich nie genug wissen – allen voran sollten wir wissen, was uns guttut.
Wie ist das also gerade bei Ihnen? In welchem Gesamtzustand sind sie aktuell – eher sehr ausgeglichen oder geht Ihnen momentan alles „auf den Geist“?
Was füllt Ihr „Ich-Feld“ und wie regelmäßig nehmen Sie sich Zeit dafür?
Was – ganz konkret – wollen Sie in der kommenden Woche tun, um Ihren Akku mal wieder aufzuladen?
Dies ist mein letzter Impuls für 2023 und so wünsche ich Ihnen allen nicht nur ein schönes Wochenende sondern auch eine schöne Vor- und Weihnachtszeit und alles Gute für 2024!