Es war eine spannende Präsentation der Kandidaten gewesen, von der mein Coachingnehmer, ein Bankvorstand, zu berichten hatte. In der Endrunde einer attraktiven Leitungsposition auf der ersten Führungsebene unterhalb des Vorstandes waren noch drei Bewerber übrig und das Auswahlgremium hatte sie nacheinander zum Gespräch gebeten.
Drei sehr unterschiedliche Bewerber hatten sich vorgestellt und als die Gespräche geführt waren, fiel die Entscheidung sehr schnell. Mein Klient hatte das Wort ergriffen und seine Meinung kundgetan: „Wir nehmen Richard, ist für mich ganz klar.“
Seine beiden Vorstandskollegen nickten heftig, nur dem Betriebsratsvorsitzenden, der mit beratender Stimme an der Sitzung teilnahm, entgleisten die Gesichtszüge. Nur mit Mühe konnte er ein „Ihr seid verrückt“ unterdrücken und trug dann mit sichtlicher Mühe seine Bedenken vor:
„Der kriegt ja die Zähne nicht auseinander, der kann niemals Menschen führen und schon gar nicht begeistern, den akzeptiert niemand…“, und so weiter.
Der Vorstand blieb bei seiner Entscheidung, das war jetzt mehrere Jahre her. In der Arbeit mit meinem Klienten war Richard im Laufe der Zeit immer wieder mal Thema gewesen. Wenn wir über ihn sprachen, dann immer nur positiv. Mein Kunde war mit ihm sehr zufrieden, die Mitarbeiter, die Richard führte, waren es auch. Der Bereich performte prächtig und immer häufiger wurde Richard eingeladen, die guten Ergebnisse der Bank auf Tagungen vorzustellen.
Richard war – so mein Klient – ein Volltreffer! Und wie ging es dem Betriebsratsvorsitzenden, der seinerzeit so gegen Richards Einstellung gekämpft hatte? Auch ihm ging es inzwischen mit dieser Entscheidung sehr gut. Richard hatte sich früh mit ihm zusammengesetzt und sie hatten besprochen, wie Richard auf den Betriebsratsvorsitzenden gewirkt hatte. Richard kam aus dem tiefsten Westfalen und war vom Typ her so „ganz anders“. Dieser erste Eindruck hatte Befürchtungen geweckt und Ängste geschürt. Als von den Mitarbeitern in Richards Team allerdings nach und nach die ersten positiven Rückmeldungen kamen, begann auch der Betriebsratsvorsitzende langsam, seine Einschätzung zu hinterfragen. Aber – nur langsam.
„Es dauerte mindestens ein Jahr, bis alle Bedenken ausgeräumt waren“, erzählte mein Coachingnehmer in einer Sitzung. Heute aber, nach drei Jahren, waren alle Bedenken ausgeräumt.
Es liegt in der Natur des ersten Eindrucks, dass wir zunächst mit aller Kraft versuchen, diesen zu bestätigen. Dieser erste Eindruck beim Betriebsratsvorsitzenden war seinerzeit negativ gewesen und er hatte erwartet, dass sich jetzt viele Dinge ereignen würden, die ihn genau in diesem Eindruck bestätigten. Wahrscheinlich hatte er es nicht nur erwartet, er hatte regelrecht nach Bestätigungen gesucht. Als diese ausblieben, war er dennoch skeptisch und nicht bereit, die positiven Signale so aufzunehmen, dass sie seinen ersten Eindruck sofort vergessen machten. Dafür brauchte es viel Zeit und immer wiederkehrende positive Erlebnisse. So ist das nun mal mit der Psychologie des ersten Eindrucks.
Aber Ende gut, alles gut, könnte schließlich sagen?
Ja, in diesem Falle ist das so!
Das sollte auch die Quintessenz dieser Geschichte sein: Nicht immer ist es gut, nach dem ersten Eindruck ein endgültiges Urteil über einen anderen Menschen zu fällen. So sehr der erste Eindruck oft stimmt, wir können auch irren. Deshalb urteilen Sie nicht vorschnell, auch jemand, der Ihnen im ersten Moment suspekt oder unsympathisch erscheint, hat eine zweite Chance verdient. Bedenken Sie: Auch Sie haben vielleicht mal einen schlechten Tag und hinterlassen bei jemanden einen schlechten ersten Eindruck.
Hätten Sie nicht auch gerne eine zweite Chance?
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende!