“Aber Sie können das doch so gut, viel besser als ich!”
“Sie sind meine beste Mitarbeiterin, ich zähle da voll auf Sie!”
“Bei Ihnen weiss ich das in den allerbesten Händen!”
Das sind nur einige Beispiele von Komplimenten, die meine Klientin spontan aufzählte, als ich Sie fragte, warum sie denn mal wieder das ganze Wochenende gearbeitet hatte und nun bei mir saß und sich über sich selbst ärgerte. Eigentlich wollte sie die letzten Sommertage genießen, an der schönen Ostsee spazieren gehen, mit Freunden den Sonnenuntergang anschauen und die Seele baumeln lassen.
“Eigentlich – dieses verflixte Wort”, schimpfte sie vor sich hin, “immer wieder tappe ich in die Eigentlich-Falle!”
Meine Klientin hat schon einen wesentlichen Schritt im Laufe Ihrer Zusammenarbeit mit mir geschafft: Sie ist nur noch wütend auf sich selbst!
Warum ich das gut finde? Weil Sie damit erkannt hat, dass der Schlüssel zur Lösung bei ihr selbst liegt und sie damit autonome Handlungsfähigkeit besitzt und kein ausgeliefertes Opfer ihrer Umwelt ist. Menschen ihre Kompetenzen erkennen und wertschätzen zu lassen, ist immer schon ein großer Schritt zum Erfolg.
Vor wenigen Wochen hätte meine Klientin wahrscheinlich noch wie folgt geklungen: “Mein Chef weiss einfach genau, wie er mich packen kann. Er hat mir wieder so schöne Komplimente gemacht, so viel Wertschätzung entgegengebracht. Und dann war da diese spannende und herausfordernde Präsentation, die aber leider am Montag fertig sein musste. Da habe ich halt das Wochenende durchgearbeitet, um meinem Chef zu imponieren. Eigentlich bin ich stinksauer, mein Chef manipuliert mich, aber was soll ich denn tun? Er ist nun mal mein Chef, da kann ich ja auch nicht widersprechen.”
Merken Sie den Unterschied, liebe Leserinnen und Leser? Das klassische Opfer, keine Kompetenzen sich zu wehren, wütend auf jemand anderen, der sein Verhalten aber nicht ändert. Warum auch? Er ist ja gerade wieder einmal mit seiner Vorgehensweise sehr erfolgreich!
Da freue ich mich also, dass meine Klientin die Opferrolle schon verlassen hat und nur auf sich selbst wütend ist, die Erkenntnis eigener Kompetenzen und Gestaltungsmöglichkeiten ist schon da – die Umsetzung fällt noch schwer.
“Mario, warum kann ich einfach nicht NEIN sagen?”, schaute Sie mich flehentlich an. Darauf komme ich gleich zurück.
NEIN sagen fällt vielen Menschen schwer und dafür gibt es oft ganz unterschiedliche Gründe. Führungskräfte tun oft Dinge lieber selbst, als diese zu delegieren, z.B. weil es schneller geht. Oder weil Sie den Erklär- und Kontrollaufwand scheuen. Im Ergebnis haben Sie dann zwar immer zu viele Sachaufgaben und ihre Mitarbeitenden entwickeln sich nicht, aber sie tun es trotzdem. Die Komplimentefalle beschreibe ich gerade anhand meiner Klientin, dann gibt es noch die gefühlte innere Verpflichtung, z.B. bei Aufgaben und Bitten innerhalb der Familie oder des Freundeskreises. Und sicher gibt es noch viele weitere Gründe, warum NEIN sagen so schwer ist.
“Bist Du sicher, dass Du nicht NEIN sagen kannst?”, fragte ich meine Klientin. “Hat das noch nie geklappt, in Deinem ganzen Leben nicht? Im Berufsleben nicht und privat auch nicht?”
Natürlich gab es Beispiele, in denen Sie auch schon NEIN gesagt hatte und damit waren für sie die nächsten zwei Türen in ihrer persönlichen Entwicklung geöffnet. Zum einen war Kontextbezug hergestellt, denn sie konnte nur im beruflichen Zusammenhang gegenüber ihrem Chef, der ihr viele Komplimente machte und sie in die Pflicht nahm, nicht NEIN sagen. Zum anderen war klar, dass es offenbar nicht SIE war, die nicht NEIN sagen konnte, sondern nur ein Teil von ihr, denn ein anderer Teil von ihr, der in anderen Kontexten aktiviert wurde, konnte das sogar sehr gut.
Das ist in meiner Arbeit immer wieder ein Schlüssel zum Erfolg: Es bin nicht ICH, der…, es ist nur ein Teil von mir. Und wenn es nur ein Teil von mir ist, dann bin ich plötzlich nicht mehr hilflos und ausgeliefert, sondern kann andere Teile suchen, aktivieren und ins Handeln bringen, die mir guttun. Häufig wird diese Teilearbeit auch die “Arbeit mit dem inneren Team” genannt und hat sich in den vielen Jahren meiner Tätigkeit als Coach inzwischen als eine der wirksamsten und erfolgreichsten Coachingmethoden immer wieder bewährt.
So war das – ohne auf die Details einzugehen – auch in diesem Falle für meine Klientin. Sie lernte den Teil näher kennen, der nicht NEIN sagen konnte. Sie fand seine positive Absicht und wertschätzte diesen Teil und all das, was er ihr bereits ermöglicht hatte. Sie erkannte aber auch, in welchem Kontext ihr diesen Anteil immer mal wieder im Wege stand. Mit all der Wertschätzung für diesen Anteil, war es plötzlich viel leichter, ihn auch mal “in die Ecke zu stellen”, nach dem Motto: “Danke, dass es Dich gibt, aber jetzt bist Du nicht dran! Du hast Pause!”
Meine Idee war eigentlich, mit ihr auch noch mindestens einen weiteren Anteil zu suchen, nämlich den, der in anderen Kontexten gut NEIN sagen konnte. Aber an diesem Tage, brauchte es das nicht mehr und so kam es auch nicht mehr zum möglichen nächsten Schritt, der Verhandlung zwischen diesen beiden Teilen.
“Klasse, ab in die Ecke mit dir!”, lachte meine Klientin plötzlich. “Ich stelle noch die Schneiderpuppe, auf der immer mein knallrotes Ballkleid hängt, davor, dann sehe ich meinen Anteil auch gar nicht mehr. Der macht auf jeden Fall Pause, wenn mein Chef mir das nächste Mal als Komplimentebomber mein Wochenende klauen will.”
Welcher Anteil von Ihr das wohl ist, der dann so wunderbar NEIN sagen kann und den anderen in die Ecke stellt? Ich hätte Lust gehabt, das mit ihr noch zu erarbeiten, aber auf mich kommt es natürlich nicht an. Für meine plötzlich so handlungskompetente und fröhlich lachende Klientin war jedenfalls für heute das Coachingziel voll erreicht. Das ist auch für mich immer wieder eine wichtige Erkenntnis: Es geht nicht darum das Modell des inneren Teams voll und möglichst in der “reinen Coachinglehre” durchzuarbeiten. Schon ganz oft habe ich erlebt, dass allein das Erkennen und Wertschätzen eines Anteils, für den Moment alle Probleme löst. Und dann reicht das auch – fortfahren können wir immer noch.
Und Sie, liebe Leserinnen und Leser?
Wie gut können Sie NEIN sagen?
In welchem Kontext fällt Ihnen das besonders schwer?
Was müsste ich tun, damit Sie ganz sicher nicht NEIN sagen könnten?
Was – ganz konkret – macht es Ihnen leichter, NEIN zu sagen?
Was könnte das für ein Persönlichkeitsanteil sein, dem es so schwerfällt, NEIN zu sagen? Was ist dessen positive Absicht und was hat dieser Anteil Ihnen schon alles ermöglicht?
Spannende Fragen? Das finde ich auch!
Na denn, ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende!