Vielleicht kennen Sie das ja auch: Sie kommen abends nach Hause und fragen sich, was heute eigentlich mit Ihnen los war? Sie schauen in den Spiegel und den Menschen, den Sie sehen, kennen Sie gut – nur das, was dieser Mensch heute gemacht hat, kennen Sie so eigentlich nicht von ihm.
“Ich möchte nicht mehr die Kontrolle über mich verlieren und Dinge tun, die ich hinterher bereue.”
So lautete vor einigen Monaten einmal der erste Entwurf einer Zielformulierung, den einer meiner Klienten als sein Ziel für die Zusammenarbeit mir mir notierte. Mit diesem Ziel haben wir so letztlich nicht gearbeitet, aber es war natürlich ein guter Einstieg für mich, um weitere Fragen zu stellen.
“Was genau passiert denn, wenn Du die Kontrolle verlierst?”, fragte ich ihn als erstes. “Bitte gib mir doch mal ein Beispiel.”
Beispiele gab es viele und sie waren durchaus unterschiedlich. Sie kamen sowohl aus dem beruflichen als auch aus dem privaten Bereich. Sie lauteten beispielsweise:
“Ich brülle meine Sekretärin an, obwohl die nun meist wirklich nichts dafür kann.”
“Ich esse zwei Tüten Chips nacheinander, obwohl ich genau weiß, wie ungesund das ist und ich danach meistens Bauchschmerzen habe.”
“Ich schalte mein Handy ab und lasse es drei Tage ausgeschaltet. Ich bin off, liege den ganzen Tag im Bett und alle anderen können mich mal.”
“Ich kaufe mir eine teure Armbanduhr, obwohl ich schon 12 Stück habe und genau weiß, dass ich sie wohl sehr selten tragen werde.”
“Ich habe das Bedürfnis, mich irgendwie zu verändern, weil ich mich gerade selbst nicht mehr sehen kann. Das führt meisten zu einer Woche, in der ich mich nicht rasiere. Danach sehe ich irgendwann so schrecklich aus, dass dieser Anblick noch schlechter zu ertragen ist.”
Haben Sie sich an dem ein oder anderen Punkt auch wiedererkannt und vielleicht gedacht: ‘Genau, so mache ich das auch!’ Das überrascht mich nicht, es ist sehr menschlich!
Die Arbeit mit meinem Klienten zeigte sehr schnell ein immer gleiches Verhaltensmuster: Dem Moment des Kontrollverlustes ging immer eine längere Phase voraus, in der er sehr diszipliniert sein musste. Diese Phase war arbeitsintensiv und von langen Arbeitsgagen geprägt. Er musste stets auf viel Freizeit verzichten und seine eigenen Interessen hintenanstellen. Der gefühlte Druck im Job war hoch, Fehler machen war verboten, es ging um zu viel Geld, zu viel Prestige oder ähnliches. Viele Wochen funktionierte er gut, teilweise sogar sehr gut, das alles machte ihm nichts aus, bis plötzlich der Kontrollverlust kam.
Ich erklärte meinem Coachingnehmer, dass wir viele sind und er schaute mich etwas verwirrt an. Er verstand aber schnell, was ich meinte, denn wir alle haben verschiedene Persönlichkeitsanteile und sind nicht nur eine Person, sondern die Summe unserer Anteile. Alle Anteile verfolgen für uns eine positive Absicht, nur eben nicht immer die gleiche. Das kann zu Konflikten führen.
“Also”, fragte ich meinen Klienten, “wer funktioniert denn da so gut in diesen Druckphasen?”
Er beschrieb schnell einen Persönlichkeitsanteil, der eifrig war, erfolgshungrig, anpackend, erfolgsverwöhnt, strukturiert, umsetzungsstark. Ein Macher eben und so nannte er ihn auch.
Der „Macher“ war oft wochenlang “am Drücker” und absorbierte alle Energie, wie im Gespräch schnell klar wurde. Der „Macher“ aß keine Chips, viel zu ungesund. Der „Macher“ kaufte keine Armbanduhr, brauchte er nicht. Der „Macher“ telefonierte 16 Stunden am Tag, Handy ausschalten kam nicht in Frage. Der „Macher“ war immer tip top geschniegelt, denn er stand ständig auf der Bühne, in Projekten, vor Kunden oder Entscheidungsträgern. Der „Macher“ war sehr dominant.
“Wundert es Dich, dass dieser Typ alle anderen Anteile in so einer Phase kaltstellt?”, fragte ich meinen Kunden. Nein, das wunderte ihn nicht. “Wen stellt er denn alles kalt?”, fragte ich weiter und schnell kam mein Kunde auf andere Persönlichkeitsanteile, die in solchen Wochen allesamt zu kurz kamen. Es sprudelte fast aus ihm heraus: Der „Genießer“, der gutes Essen und Wein liebte. Der „Insichgekehrte“, der stundenlang Musik hören und sich selbst genug sein konnte. Und es gab noch ein paar Anteile mehr.
Kontrollverlust, das war also eigentlich ein aus der Balance sein. Seine Persönlichkeitsanteile harmonierten nicht mehr miteinander, einige wurden unterdrückt.
Vielen meiner Coachingnehmer hat dieses Konzept schon geholfen:
Wir sind viele!
Nicht ich bin, sondern ein Teil von mir ist. Das fühlt sich schnell viel leichter und besser an. Ich kann in Kontakt mit diesem Teil gehen und schauen, was er braucht. Ich bin nicht hilflos, weil immer ein Teil da ist, der mir weiterhilft, ich sehe und spüre ihn im Moment vielleicht nur nicht. Auch wenn die Arbeit mit Persönlichkeitsanteilen oft umfassend ist, allein die Erkenntnis, dass der „Macher“ nur ein Teil von ihm ist, den er auch in seine Schranken weisen kann, ließ meinen Klienten schnell große Fortschritte machen.
“Du bist der Macher, Du machst mich beruflich erfolgreich. Du bist ein Teil vor mir, aber Du bist auch nur ein Teil vor mir!”
Damit ging es ihm sofort viel besser.
Nun noch zu Ihnen:
Welcher Ihrer Anteile ist vielleicht aktuell sehr dominant?
Was fühlt sich gerade gar nicht gut an und welcher Anteil könnte es sein, der momentan nicht genug Aufmerksamkeit bekommt?
Welchen Anteil wollen Sie unbedingt mal wieder in den Vordergrund rücken, spüren und wertschätzen, damit Sie sich besser fühlen?
Vielleicht fangen Sie ja gleich an diesem Wochenende damit an!