Da saßen wir also seit sehr langer Zeit mal wieder zusammen in der Kneipe, drei alte Schulfreunde, die es endlich geschafft hatten, sich mal wieder zu treffen. Es gab auch einen Anlass, nämlich das bevorstehende Jahrgangstreffen unseres Abi-Jahrgangs. Es war der 30. Jahrestag und wir diskutierten eifrig, ob wir an diesem Fest teilnehmen wollten oder nicht.
Für mich wäre das mit 500 km Anreise verbunden und um ehrlich zu sein, ich mag solche Treffen eigentlich nicht. Fast alle aus meinem Jahrgang hatte ich aus den Augen verloren, weil ich bald nach dem Abitur weggezogen und nie in meine Heimatstadt zurückgekehrt war. Nur wenige gute Freunde waren übriggeblieben und die waren mir auch wichtig, zu ihnen hatte ich immer noch Kontakt. Der Rest war eigentlich vergessen.
Meine beide Kumpel lebten noch am Schulort und so war für sie natürlich völlig klar, dass sie an dem 30jährigen Jubiläum teilenehmen würden.
„Nun, komm schon, Du warst noch nie da, einmal in 30 Jahren kannst Du dich auch aufraffen.“ So oder ähnlich bearbeiten mich die beiden den ganzen Abend lang und schließlich willigte ich ein, zu kommen. Damit konnten wir uns den Rest des Abends den Erinnerungen und – um ganz ehrlich zu sein – auch dem Lästern über unsere ehemaligen Schulkameraden hingeben.
Von einigen wusste jeweils einer von uns dann doch sehr konkret, was aus ihm oder ihr geworden war, welchen Beruf sie ausübten und welchen Lebensweg sie eingeschlagen hatten. Einige waren weit fortgezogen, so wie ich. Einige lebten noch in der Umgebung, andere waren leider inzwischen auch bereits verstorben. Manche hatten Karriere gemacht und bekleideten hohe Leitungspositionen in großen Firmen, andere hatten sich selbständig gemacht und selbst erfolgreiche Unternehmen aufgebaut und wieder andere hatten sich ganz auf die Familie konzentriert.
Wir stellten im Gespräch fest, dass wir von einigen zumindest noch das ein oder andere wussten, weil wir über die sozialen Netzwerke verbunden geblieben waren. Und dann gab es da noch die Gruppe, von der wir gar nichts mehr wussten. Kein persönlicher Kontakt mehr, in den sozialen Netzwerken nicht aktiv, offenbar nach der Schule „abgetaucht“. Als wir bei dieser Gruppe angekommen waren, kamen wir auch auf unseren Mitschüler Alexander.
Keiner von uns wusste, was aus ihm geworden war, wo er war, welchen Beruf er ausübte, wir waren blank. So blieben nur die Erinnerungen an die Schulzeit und die waren – insbesondere nachdem wir auch schon das ein oder andere Bier getrunken hatten – für unseren Mitschüler nicht sonderlich vorteilhaft.
Er war so ein langer Schlacks gewesen, erinnerten wir uns. Immer ziemlich wilde Frisur, ein Träumer, meist mit sich selbst beschäftigt. Ein netter Kerl, aber eher das Gegenteil einer Stimmungskanone. Nicht sonderlich kommunikativ, ein Eigenbrödler. Schnell waren wir uns einig in unserem Urteil: „Aus Alexander ist sicher nichts geworden und der kommt auch sicher nicht zum Jubiläum.“
Sie ahnen schon, dass ich Ihnen diese Geschichte nicht erzählen würde, wenn wir uns nicht gründlich geirrt hätten. Am Festabend zogen wir zu dritt lange durch die einzelnen Räume und schließlich begegneten wir überraschend auch Alexander. Er saß – irgendwie für uns passend – ganz hinten in einer Ecke, ein Bier in der Hand und beobachtete das bunte Treiben. Wir hockten und dazu, erzählten von uns und alberten ein wenig herum. Schließlich stellte einer meiner beiden Kumpel, die Frage, die uns so unter den Nägeln brannte:
„Und Alexander, altes Haus, was machst Du denn heute so? Von Dir wissen wir ja gar nichts!?“
Alexander schaute uns an und sagte: „Ich bin Hirnchirurg und Chefarzt der Neurochirurgie einer großen Klinik, wir haben uns auf Patienten mit Gehirntumoren spezialisiert.“
Ich muss Ihnen sicher nicht weiter erläutern, wie wir drei uns fühlten. Ausgerechnet Alexander, dem wir so wenig zugetraut hatten. Wie peinlich war plötzlich alles, was wir vor ein paar Wochen in der Kneipe so daher gesagt hatten.
So kann es gehen, wir haben Bilder von Menschen im Kopf und seien sie auch 30 Jahre alt. Aus diesen Bildern leiten wir allzu gern Bewertungen ab. Manchmal treffen diese auch zu, häufig jedoch leider auch nicht. So besteht die Gefahr, Menschen unrecht zu tun, was je nachdem wie wir uns äußern auch sehr verletzend sein kann. Deshalb ist immer Vorsicht geboten, die Bilder in unserem Kopf können auch täuschen.
Sie haben auch gerade eine Erinnerung, dass Sie schon einmal in genau diese Falle getappt sind und jemanden vollkommen falsch eingeschätzt haben. Dann hoffe ich für Sie, dass Sie das gleiche Glück hatten, wie damals meine beiden Kumpel und ich, denn Alexander hat von unserem Treffen in der Kneipe zum Glück nie erfahren, es wäre unendlich peinlich für uns gewesen.
Also überlegen Sie bitte zweimal, bevor Sie aufgrund alter Bilder in Ihrem Kopf eine Bewertung vornehmen, das erspart Ihnen im Zweifel auch die ein oder andere peinliche Entschuldigung.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende!