In meinen inzwischen 15 Jahren, die ich als Coach arbeite, kommen immer wieder Menschen zu mir, weil sie gerade „ein Problem haben“, welches sie allein nicht lösen können. Sehr oft ergibt sich schon in den ersten Schilderungen der Klienten eine Situation, in der sie sich als ausgeliefertes Opfer erleben und andere an ihrer Situation schuldsind. Damit ist für mich auch klar, wo ich die ersten Interventionen anzusetzen habe.
Unser Erleben ist immer geprägt durch unsere persönliche Bewertung einer Situation. Wir sind niemals ein ausgeliefertes Opfer, dessen Erleben fremdbestimmt ist. Die wesentlichen Forschungen dazu gehen auf den Biologen Maturana zurück, der den Begriff der Autopoese geprägt hat. Leben bzw. Erleben ist also ein selbstorganisierter Prozess. Diese Überlegungen liegen auch den hypnosysthemischen Konzepten, wie sie in Deutschland allen voran Dr. Gunther Schmidt aber auch anderen entwickelt haben, zu Grunde. Es ist also niemals die Situation, ein Ereignis oder eine andere Person, die für unser Erleben verantwortlich ist, es ist immer unsere Bewertung und unser Umgang mit dieser Situation – wir sind immer selbst für unser Erleben verantwortlich.
Entschuldigung – eine solch eher wissenschaftliche Einleitung sind Sie von mir nicht gewohnt und ich werde auch sofort bildhaft und habe Beispiele für Sie, denn kaum irgendwo kann man diese Selbstbestimmtheit des Erlebens so gut sehen und hören wie bei den Olympischen Spielen.
Hier sind also einige olympische Bespiele aus Paris, wobei ich sehr bewusst auf Namen verzichte, denn es geht hier keinesfalls darum irgendjemanden anzuprangern oder bloßzustellen – menschlich habe ich für jede Reaktion großes Verständnis. Wir werden aber sehen, wie unterschiedlich bei ähnlichen Erlebnissen die Situationsbewertung das Erleben macht:
- Eine Schwimmstaffel steht zum Interview bereit, es ist so gut wie sicher, dass sie im Vorlauf ausgeschieden ist. Das große Ziel – olympischer Endlauf – wird ziemlich sicher verpasst. Nach drei eher traurigen Antworten fragt der Interviewer die Schlussschwimmerin, wie Sie diesen Lauf erlebt habe. Die junge Frau bricht sofort in Freudentränen aus und sagt: „ Ich bin bei Olympia, das ist so großartig. Ich habe alles aufgesogen. Ich habe mein Bestes gegeben, es war so ein tolles Erlebnis!“ Auch so kann man ausscheiden.
- Eine Schwimmerin erreicht den Endlauf, es ist ein spannendes Rennen, am Ende reicht es ganz knapp nicht für eine olympische Medaille, sie wird Vierte. Als Sie zum Interview kommt, ist ihr die Enttäuschung anzusehen und sie sagt: „4.Platz, das ist halt die erste Verliererin.“
- Eine Judokämpferin steht im Halbfinale und kämpft damit um die Medaillen. Leider verliert sie sowohl das Halbfinale als auch den Kampf um die Bronzemedaille. Da im Judo zwei Bronzemedaillen vergeben werden, wird sie damit Fünfte. Im Interview sagt sie schließlich unter Tränen: „5.Platz, das ist wohl der blödeste Platz, ich wollte unbedingt eine Medaille.“
- Es ist das Finale über 200 Meter Rücken und als die acht Finalisten anschlagen, wird der Schwimmer in diesem Endlauf trotz persönlicher Bestzeit letzter. Als er zum Interview gebeten wird, strahlt er und sagt: „Ich habe nochmal (persönliche) Bestzeit geschwommen, mehr kann ich nicht wollen.“
- Ein Leichtathlet ist 19. geworden und damit auch hinter seinen eigenen Erwartungen zurückgeblieben. Sichtlich enttäuscht sagt er im Interview: „Ich werde Förderung verlieren, muss also in Zukunft mit weniger auskommen und noch mehr leisten.“
- Eine Schwimmstaffel erreicht als achte das olympische Finale. Es ist schon klar, dass sie in diesem Finale keine Chance haben wird, um eine olympische Medaille mitzuschwimmen, zu groß ist der Abstand zu den besten Mannschaften. Im Interview sagt einer der Schwimmer: „Ich bin überglücklich, dieses Erlebnis mit den Jungs, wir stehen im olympischen Finale – großartig!“
- Kajak-Cross Finale der Frauen: Vier Boote fahren um die drei Medaillen und die Kanutin wird vierte. Ein Fehler an einem Tor führt zu einer Strafe, damit hat sie keine Chance mehr. Sie bleibt als einzige in diesem Endlauf ohne Medaille. Wenige Minuten später ist das Finale der Herren und ihr Landsmann macht es besser und gewinnt die Bronzemedaille. Kaum ist er mit seinem Boot in Ufernähe springt die eben noch unterlegene Sportlerin ins Wasser, schwimmt zu ihm und ist die erste Gratulantin, die ihm um den Hals fällt.
Mit diesen Beispielen, die ich noch um viele weitere ergänzen könnte, möchte ich es bewenden lassen. Ich glaube es wird sehr deutlich, dass es nicht das Ereignis als solches ist, sondern die ganz persönliche Bewertung der Sportlerinnen und Sportler, die das Erleben bestimmt. Und vielleicht ist ihnen auch aufgefallen, dass überall dort, wo der Fokus auf externer Anerkennung (Medaillen, Förderung, etc.) lag, die Bewertung meist negativer ausgefallen ist, als wenn die persönliche Leistung im Fokus stand.
In meiner Arbeit ist oftmals der Durchbruch erreicht, wenn meine Klientinnen und Klienten verstanden haben, dass Sie selbst für Ihr Erleben verantwortlich sind. Das ist keinesfalls immer leicht, denn oftmals war es viel einfacher einem Dritten die Schuld an der eigenen Situation zu geben und darauf zu warten, dass dieser sein Verhalten ändert, damit es auch mir besser geht. Nur passierte das oftmals leider nicht, bequem war diese Haltung trotzdem.
Sich aufzuraffen und selbst aktiv zu werden, Gedanken und Bewertungen zu ändern, Verhalten neu auszurichten und Verantwortung für sich zu übernehmen, ist anstrengend und keinesfalls einfach, weshalb ich jedes Mal aufs Neue großen Respekt vor meinen Klientinnen und Klienten habe. Die Ergebnisse überzeugen dabei immer wieder, denn die Geschichten ähneln sich am Ende immer und lassen sich vielleicht in folgendem Satz zusammenfassen:
„Seit ich kein ausgeliefertes Opfer mehr bin, sondern die Dinge aktiv selbst gestalte, geht es mir viel besser, selbst wenn nicht jeder Tag nur aus Glücksgefühlen besteht.“
Damit wird auch klar, dass es weiterhin negative Gefühle wie Trauer, Wut oder Ärger geben wird. Diese Gefühle sind auch wichtig und gehören zum Leben dazu, die Frage ist nur, ob wir zulassen, dass sie uns dauerhaft beherrschen oder nicht. Es geht nicht um „alle Tage Sonnenschein“, aber um das Bewusstsein, dass wir niemals ausgeliefert und hilflos sind.
Sie, liebe Leserinnen und Leser, haben also die Wahl, wie Sie Ihr Erleben gestalten möchten – sie erzeugen es selbst – Autopoese eben.
Welche der olympischen Geschichten in diesem Beitrag möchten Sie als Ihr Beispiel wählen?
Wann hatten Sie zum letzten Mal das Gefühl ausgeliefert und hilflos zu sein? Wie sind Sie dieser Situation entkommen?
Welche Geschichte würden Sie mir erzählen, wenn ich nach einem Erlebnis fragen würde, dass sich wie eine Niederlage anfühlte, Sie aber großartig gemeistert haben?
Welche Situation steht Ihnen vielleicht in naher Zukunft bevor, bei der Sie sich schon im Vorfeld klar machen könnten, wie sehr Ihr Erleben dieser Situation von Ihrer Bewertung abhängen wird?
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